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07.07.2015

Bundespräsident hat Tarifeinheitsgesetz unterschrieben

Lange habe ich gegen dieses Gesetz angekämpft, denn es ist für mich ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit und ein Angriff auf das Streikrecht. Nach der Abstimmung im Bundestag blieb mir nur noch ein Brief an den Bundespräsidenten. Erstmalig habe ich ihn darum gebeten, ein Gesetz nicht zu unterschreiben. Jetzt ist es aber amtlich. Das Tarifeinheitsgesetz kann in Kraft treten, nachdem Bundespräsident Gauck das Gesetz unterschrieben hat. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

seit dem Urteil des Bundarbeitsgerichts im Jahr 2010 bin ich für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen federführend für das Thema „gesetzliche Tarifeinheit“ zuständig. Fünf Jahre lang habe ich mich intensiv mit der Tarifeinheit beschäftigt. Ich habe ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages in Auftrag gegeben, einen Antrag in den Bundestag eingebracht, eine umfassende Kleine Anfrage geschrieben und vielfältige schriftliche Fragen an die Bundesregierung gestellt. Mittlerweile ist es das für mich wichtigste Thema. Es geht mir unter die Haut. Deshalb ist es mir ein Anliegen, Ihnen meine Bedenken mit diesem Brief mitzuteilen. Und deshalb bitte ich Sie erstmalig ein Gesetz nicht zu unterschreiben.

Aus meiner Sicht ist die gesetzliche Tarifeinheit ein Eingriff in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit und ein Angriff auf das Streikrecht. Die Tarifpluralität gehört aber zu den Grundprinzipien unserer Demokratie, denn alle Beschäftigten haben das Recht, sich zu organisieren und müssen in letzter Konsequenz auch das Recht haben, für ihre Anliegen zu streiken.

Gleichzeitig ist unbestritten: Die Tarifpolitik der Gewerkschaften lebt von Solidarität. Tarifpluralität erfordert deshalb Kooperationen zwischen den Gewerkschaften. Nur solidarisch können alle Beschäftigten angemessen vertreten und in ihren Anliegen unterstützt werden. Das Tarifeinheitsgesetz wird dafür aber nicht den notwendigen Betriebsfrieden schaffen – im Gegenteil, es wird die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften und den Kampf um Mitglieder verschärfen. Ich bin zutiefst überzeugt, Solidarität und Kooperationen lassen sich nicht verordnen und schon gar nicht gesetzlich erzwingen. Beides ist nur auf freiwilliger Basis zu haben, und das ist auch nicht Aufgabe der Politik, sondern Aufgabe der Gewerkschaften.

Schon die Annahmen sind falsch

Nach dem BAG-Urteil hatten die Befürworter der gesetzlichen Tarifeinheit befürchtet, dass sich zukünftig vermehrt neue Berufsgewerkschaften bilden und die Streikhäufigkeit zunehmen wird. Diese Befürchtungen sind jedoch nicht eingetreten. Der Tarifexperte Heiner Dribbusch schreibt in der Zeitschrift Wirtschaftsdienst (Heft 10, 2014) „keine einzige durchsetzungsfähige Berufsgewerkschaft hat sich in den letzten zehn Jahren neu gebildet. Die bestehenden sind insgesamt weder erfolgreicher noch ‚streikfreudiger‘ als die Industriegewerkschaften. Alle Berufsgewerkschaften zusammen waren seit 2010 in weniger als 30 Tarifkonflikte mit (meist kurzen) Arbeitsniederlegungen involviert; allein ver.di – nur zum Vergleich – im gleichen Zeitraum in mehr als 600.“ Mehr noch – im internationalen Vergleich sind die Streiktage in Deutschland weiterhin überschaubar. Gleichzeitig gibt es bei Streiks auch ausreichend gerichtliche Kontrollinstrumente. Vor allem haben konkurrierende Gewerkschaften in der Vergangenheit häufig kooperiert, wenn es um neue Tarifverträge ging. In der Konsequenz gibt es keinen Anlass, die Tarifpluralität gesetzlich auszugestalten.

Auch die Zielsetzung des Gesetzes geht an der Realität vorbei. „Die Kollision von Tarifverträgen konkurrierender Gewerkschaften beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.“ So begründet Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles das Gesetz und sie meint, dass Tarifkollisionen zu innerbetrieblicher Lohnungerechtigkeit und Entsolidarisierung führen. Doch Fakt ist: Wenn sich manche Berufsgruppen von Einheitsgewerkschaften nicht mehr angemessen vertreten fühlen, dann ist es ihr gutes Recht, sich in einer anderen Gewerkschaft zu organisieren. So etwas nennt sich Koalitionsfreiheit und das ist ein Grundrecht. Abgesehen davon stellt sich die Frage, inwiefern es solidarischer ist, wenn zukünftig aufgrund der betriebsbezogenen Mehrheitsverhältnisse die Beschäftigten beispielsweise im Bahnkonzern in Betrieb A mit einer GDL-Mehrheit andere Löhne erhalten als im Betrieb B mit einer EVG-Mehrheit?

Die Tarifautonomie aber funktioniert tatsächlich nicht, wenn Arbeitgeber durch Tarifflucht Flächentarifverträge unterlaufen und Arbeitgeberverbände eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung ermöglichen. Und die innerbetriebliche Lohngerechtigkeit wird vielmehr von den Arbeitgebern ausgehebelt, wenn sie mithilfe von Leiharbeit, Werkverträgen und Outsourcing Lohnungerechtigkeit in den Betrieben etablieren. Mit diesen Geschäftsmodellen zersplittert tatsächlich die Tariflandschaft und so zersplittern auch die Belegschaften. Mit dem Tarifeinheitsgesetz werden diese Probleme in keiner Weise gelöst.

Eingriff in die Koalitionsfreiheit

Kollidieren zwei Tarifverträge, so soll zukünftig per Gesetz nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb gelten. Mit dieser vermeintlichen Lösung werden allein die Mehrheitsgewerkschaften gestärkt. Die Minderheitengewerkschaften müssen sich unterordnen. Doch Artikel 9 Abs. 3 im Grundgesetz ist eindeutig: Die Koalitionsfreiheit gilt hiernach für „jedermann und alle Berufe“. Er lässt eine Unterordnung des Grundrechts auf Koalitionsfreiheit unter gesellschafts- oder wirtschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen nicht zu. So schreibt Prof. Dr. Wolfgang Däubler in seinem Gutachten: „Das Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG lässt sich nicht in das Korsett eines ganz bestimmten Freiheitsgebrauchs pressen; es gibt keinen ungeschriebenen Funktionsvorbehalt“. Auch Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht der Universität Bonn und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht bezweifelt die Verfassungskonformität des Tarifeinheitsgesetzes, denn er schreibt in seinem Rechtsgutachten: „Der Eingriff in den Kernbereich der Koalitionsfreiheit ist nur bei nachweisbaren schweren und konkreten Gefahren für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt.“ Und: „Diese Voraussetzungen sind in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.“ Diese Einschätzungen werden von weiteren Verfassungsexperten geteilt und ebenso vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages.

Angriff auf das Streikrecht

Das Streikrecht ist mir ein besonderes Anliegen, denn es ist das einzige Mittel, damit Gewerkschaften auf Augenhöhe Tarifverträge verhandeln können. Das Tarifeinheitsgesetz schränkt zwar das Streikrecht nicht direkt ein – indirekt aber schon. So antwortete die Bundesregierung auf meine Frage, dass ein Streik schon vor dem Abschluss eines Tarifvertrags „unverhältnismäßig sein kann, soweit ein Tarifvertrag erzwungen werden soll, dessen Inhalte evident nicht zur Anwendung kommen“. Mit dieser Antwort bestätigte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erstmalig den Eingriff in das Streikrecht.

Egal, wie das Streikrecht am Ende interpretiert wird, geplant sind eindeutig Einschränkungen. Deutlich wird das auch durch den Text zum Gesetz auf der Seite des Bundesrates: „Das Gesetz soll zukünftig Arbeitskämpfe konkurrierender Gewerkschaften im selben Unternehmen – wie zum Beispiel bei der Deutschen Bahn oder der Lufthansa – verhindern. Es schreibt daher fest, dass im Streitfall nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern gilt.“ Diese Begründung für das Tarifeinheitsgesetz passt in keiner Weise mit der öffentlichen Zielbeschreibung der Bundesregierung zusammen. Dafür ist sie ehrlicher.

Das Streikrecht ist aber ein hohes Gut und wenn es eingeschränkt wird, dann stellt das ganz eindeutig die Existenzberechtigung von Minderheitengewerkschaften in Frage. Denn wenn Gewerkschaften nicht mehr für ihre Anliegen eintreten können, dann verlieren sie zwangsläufig für die Beschäftigten an Bedeutung und Akzeptanz.

Ich befürchte zudem, dass das Tarifeinheitsgesetz den Weg für weitere noch stärkere Einschnitte ins Streikrecht ebnet. Immerhin fordern die Wirtschaftspolitiker der Union und die Arbeitgeberseite mittlerweile ein gesetzliches Schlichtungsverfahren im Bereich der Daseinsvorsorge, um Tarifauseinandersetzungen in „ruhige Bahnen“ zu lenken. Betroffen wären davon nicht nur kleine Gewerkschaften und ver.di, sondern alle DGB-Gewerkschaften. Das ist nicht akzeptabel, denn schon 1980 urteilte das Bundesarbeitsgericht: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik wären nicht mehr als kollektives Betteln.“ Damit würde die Balance zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nachhaltig verschoben – zu Lasten der Beschäftigten.

Konkurrenz in den Betrieben

Das Grundrecht und Freiheitsrecht der Koalitionsfreiheit wird mit dem Tarifeinheitsgesetz unter einen Mehrheitsvorbehalt gestellt. Das widerspricht für sich schon eindeutig dem Geist unserer Verfassung. Dieser Mehrheitsvorbehalt wird aber auch zwangsläufig zum Häuserkampf führen. Natürlich müssen kleinere Gewerkschaften zukünftig unter allen Umständen versuchen, größer und mächtiger zu werden. Immerhin bekommt der Gewinner am Ende alles, vor allem den gültigen Tarifvertrag. Anders als es die Begründung des Gesetzes vorgibt, wird die gesetzliche Tarifeinheit die Solidarität in den Belegschaften nicht stärken – im Gegenteil: Sie wird die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften anfeuern und den Kampf um die Mitglieder verschärfen.

Minderheitsgewerkschaften müssen zwangsläufig aggressiv um Mitglieder werben, denn nur so haben sie zukünftig noch die Chance, die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen durch einen eigenen Tarifvertrag zu regeln. Bei der Deutschen Bahn werden beispielsweise EVG und GDL in rund 300 Betrieben um die Mehrheit kämpfen. Es besteht auch die Gefahr, dass sich Berufsgewerkschaften für neue Berufsgruppen öffnen, um sich die Mehrheit im Betrieb zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise der aktuelle Tarifkonflikt der GDL ganz rational, denn durch das drohende Tarifeinheitsgesetz muss die GDL einen Tarifvertrag abschließen, der für die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder gilt. Das Tarifeinheitsgesetz wird auch bisherige Kooperationen gefährden. Denn wenn ein Gesetz die großen Gewerkschaften einseitig stärkt, dann entfällt für sie die Notwendigkeit Kooperationen einzugehen.

Handwerkliche Schwächen

Der Dreh- und Angelpunkt der Umsetzung der gesetzlichen Tarifeinheit ist die Mitgliederzählung im Betrieb, wenn zwei Gewerkschaften und zwei Tarifverträge im gleichen Betrieb in „Kollision“ geraten. Der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Wolfgang Däubler äußerte in der öffentlichen Anhörung bezüglich der Mitgliederzählung erhebliche Bedenken und bezeichnete sie als „ ein Beschäftigungsprogramm für Juristen, Rechtsanwälte, Richter, Gewerkschaften und Kommentatoren“. Im Streitfall ist es beispielsweise nach wie vor offen, wie die vom Notar festgestellte Zahl der Mitglieder tatsächlich von den Gerichten überprüft werden kann. Es gibt schlichtweg kein Plan, wie die Zahl von Gewerkschaftsmitglieder rechtssicher festgestellt wird. Die Bundesregierung konnte die dazu von mir gestellten Fragen nicht beantworten.

In der Anhörung wurde darüber hinaus von den Praktikern auch der Betriebsbegriff kritisiert. Es besteht die Befürchtung, dass der Betriebsbegriff einseitig von der Arbeitgeberseite definiert werden kann und unliebsame Gewerkschaften gezielt in die Minderheit gedrängt werden. Rechtsexperten warnen zudem davor, dass mit dem unscharfen Betriebsbegriff ein neuer Streikgrund geschaffen wird, denn letztlich entscheidet sich im Betrieb, welcher Tarifvertrag zur Anwendung kommt.

Das Gesetz ist handwerklich schlecht, darüber waren sich die Praktiker in der Anhörung einig. Vor allem schiebt die Bundesregierung die Verantwortung zu den Gerichten. Das ist leichtfertig und provoziert vielfältige Rechtsstreitigkeiten. Wenn die Bundesregierung schon so tief in die Tarifautonomie eingreift, müsste sie zumindest für Rechtssicherheit sorgen. Das Gegenteil ist aber der Fall.

Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass ich selbst Mitglied in zwei DGB-Gewerkschaften bin und vehement für starke Gewerkschaften eintrete. Im Falle des Tarifeinheitsgesetzes stehe ich aber weder auf der Seite der DGB-Gewerkschaften noch auf der Seite der Berufsgewerkschaften, sondern ich stehe ausschließlich auf der Seite der Verfassung. Für mich haben alle Gewerkschaften eine Existenzberechtigung und über ihre Bedeutung dürfen nur die Mitglieder urteilen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich der Gesetzgeber weder einmischen noch gewisse Gewerkschaften unter Druck setzen darf, denn damit können allein die Arbeitgeber zufrieden sein.

Die Tariflandschaft hat sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt. Mit dem Tarifeinheitsgesetz wird jetzt politisch eingegriffen. Und damit wird – anders wie die Bundarbeitsministerin immer wieder beteuert – eben nicht wieder den Zustand von vor 2010 hergestellt. Denn damals galt das Spezialitätsprinzip und heute soll das Mehrheitsprinzip gelten und das greift ganz elementar in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ein. Dieser Eingriff hat weitreichenden Auswirkungen, die niemand tatsächlich einschätzen kann. Auch die Bundesregierung hat keine Idee, wie sich das Tarifeinheitsgesetz auswirken wird. Denn ich habe nachgefragt, wie viele kollidierende Tarifverträge bestehen und was das Gesetz in den verschiedenen Branchen bewirkt. Die Bundesregierung aber hat keine „Erkenntnisse“, keine „Daten“ und keine Einschätzung. Das ist nicht akzeptabel. Wenn eine Regierung ein Gesetz vorlegt, dann sollte sie sich vorher zumindest Gedanken über die Wirkungen machen, alle Fragestellungen bedenken und Rechtssicherheit herstellen. Das ist schon mein Anspruch an Politik.

Arbeitskämpfe, deren Folgen und politischer Handlungsbedarf können unterschiedlich bewertet werden. Ein Gesetz aber muss verfassungsgemäß, handwerklich gut und rechtssicher ausgestaltet sein. In diesem Sinne würde ich mich sehr freuen, wenn Sie meine Argumente und Ausführungen bei Ihrer Entscheidung berücksichtigen würden. Und selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit für einen Austausch zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Beate Müller-Gemmeke

 

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