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27.10.2011

Rede: Diskriminierungsfreie Kündigungsfristen

Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass in Deutschland im Kündigungsschutz eine Diskriminierung aufgrund des Alters vorliegt. Die Regelung im §622 BGB, dass die Beschäftigungszeiten für junge Menschen unter 25 Jahren bei den Kündigungsfristen nicht angerechnet werden, darf nicht mehr angewandt werden. Folgerichtig haben wir einen Gesetzentwurf eingebracht, dass dieser Satz gestrichen wird. Die Regierungsfraktionen haben weder unserem Gesetzentwurf zugestimmt, noch werden sie selber tätig. Ich kann nur vermuten, dass sie die Arbeitgeber vor dieser minimalen Verschlechterung schützen wollen und nach anderen Lösungen suchen. Da kann ich nur sagen – Hände weg vom Kündigungsschutz!

Vizepräsident Eduard Oswald: Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle wissen: Diskriminierungen aufgrund des Alters sind inzwischen tabu. Das gilt auch in der Arbeitswelt, sowohl für ältere Beschäftigte als auch für junge. Folgerichtig kam der Europäische Gerichtshof zu dem Schluss, dass es gegen europäisches Recht verstößt, wenn junge Beschäftigte kürzere Kündigungsfristen haben als ältere.

Bisher konnte einer 28-Jährigen, die zehn Jahre in einem Betrieb gearbeitet hat, mit Frist von nur einem Monat gekündigt werden. Wäre sie älter und hätte später zu arbeiten angefangen, läge die Kündigungsfrist, Herr Weiß, eben nicht bei einem oder zwei Monaten, sondern bei vier Monaten. Möglich wurde dies durch einen einzigen Satz in § 622 BGB. Diesen Satz wollen wir, genauso wie die SPD, streichen, und zwar ersatzlos.

Seit dem Urteilsspruch des EuGH darf dieser Satz – das wurde schon gesagt – in Deutschland nicht mehr angewandt werden. Aber wer weiß das schon? Herr Weiß, glauben Sie wirklich, dass alle Beschäftigten und alle kleinen und mittelständischen Betriebe die Rechtsprechung des EuGH im Detail verfolgen? Wissen der Handwerker und die Kleinunternehmerin, dass sie eine falsche Auskunft bekommen, wenn sie einen Blick ins Gesetzbuch werfen? Wer kommt schon auf die Idee, dass in einem Gesetz etwas drinsteht, das gar nicht mehr gültig ist? So etwas ist meiner Meinung nach eines Rechtsstaates unwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Hier fordern wir klare Rechtssicherheit. Eine Norm, die seit fast zwei Jahren nicht mehr anzuwenden ist, darf auch nicht im Gesetz stehen.

Warum wollen Sie diesen Satz eigentlich nicht streichen? Es wurde schon angesprochen, dass man ein bisschen beleidigt ist, dass sich hierzu ein europäisches Gericht äußert. Es kann auch sein, dass Sie unseren Gesetzentwurf ablehnen, weil er eben von uns kommt – dann könnten Sie aber schnell tätig werden und selber etwas vorlegen -, oder der Gesetzentwurf den alten Reflex ausgelöst hat, dass den Arbeitgebern keine Verschlechterung zugemutet werden kann. In den Debatten ist schon angeklungen, dass es durchaus Alternativen gibt: zwei Jahre Vorbeschäftigungszeit für alle, andere Differenzierungen.

Es wurde auch die damalige Begründung angeführt, dass junge Menschen leichter einen Job finden als ältere. Das ist aber die Begründung aus dem Jahr 1926. Die Arbeitsrealität ist heute eine andere – immerhin sind seitdem 85 Jahre vergangen -: Mangelnde Berufserfahrung wird zum Hindernis. Auszubildende werden nicht immer übernommen. Befristete Verträge werden zur Regel. Neben der Generation Praktikum gibt es längst die Generation „Befristung und Erprobung“; Kollegin Ploetz hat es eben ausgeführt. Viel zu viele Menschen jeglichen Alters kämpfen doch heute damit, dass ihre Arbeitsverhältnisse nicht mehr auf Dauer angelegt sind. Unsichere und prekäre Beschäftigung nehmen zu. Es gibt sechs Monate Probezeit und Leiharbeit. Phasen der Arbeitslosigkeit gehören schon fast zu einer normalen Erwerbsbiografie. Da müssen Sie, die Regierungsfraktionen, sich doch nicht noch darüber Gedanken machen, die Kündigungsfristen zu verändern; da haben wir wahrlich ganz andere Probleme.

Unser Arbeitsmarkt ist längst flexibel genug. Heute kann es nicht mehr um weniger Sicherheit gehen; wir brauchen stattdessen ein Mehr an Sicherheit für die Menschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Da müssen nicht nur Sie endlich anfangen, umzudenken; auch die Arbeitgeber müssen einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Arbeitgeber brauchen doch loyale und engagierte Beschäftigte. Sie brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Fähigkeiten in innovative Richtungen lenken können und so einen Wettbewerbsvorteil bringen. Sie brauchen Beschäftigte und deren Fachkenntnisse, um einen Betrieb am Laufen zu halten. Mit Blick auf den demografischen Wandel und auf den Fachkräftemangel sollten Beschäftigte motiviert werden. Mit längeren Kündigungsfristen wird das wahrlich nicht gelingen.

Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Begraben Sie, vor allem die FDP, Ihren alten Reflex, immer und immer wieder die Arbeitgeber schützen zu müssen. Unser Gesetzentwurf bietet Ihnen die Möglichkeit, mit einem ersten kleinen Schritt zu beginnen. Zeigen Sie endlich etwas Empathie, wo Sie bisher noch keine zeigen. Sorgen Sie zugleich für ein gutes Stück Rechtssicherheit in unseren Gesetzesbüchern. Überprüfen Sie endlich das Arbeitsrecht auf weitere Kollisionen mit EU-Recht. Geben Sie sich einfach einen Ruck, und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)