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05.11.2018

Anhörung: Sozialer Arbeitsmarkt

Die Anhörung hat gezeigt, dass noch viel Änderungsbedarf beim Sozialen Arbeitsmarkt besteht. Neben der Kritik, dass sich die Förderung nur am Mindestlohn orientiert, gab es gerade vom grünen Sachverständigen Prof. Dr. Sell ganz grundsätzliche Kritik.

Abgeordnete Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Meine Fragen gehen an Prof. Dr. Sell. Erstens, Sie schreiben ja in Ihrer Stellungnahme, Lohnkostenzuschüsse können für zwei unterschiedliche Zielsetzungen eingesetzt werden und um diese unterschiedlichen Zielsetzungen erreichen zu können, muss dann auch die Instrumentenseite jeweils passend, also wiederum unterschiedlich ausgestaltet werden. Eine zentrale Kritik ist von Ihnen, dass die Zielsetzung und die Ausgestaltung in diesem Gesetz nicht zusammen passen, konkret, dass die Zugangsvoraussetzungen, also mindestens sieben Jahre Leistungsbezug in den letzten acht Jahren, verfehlt ist. Können Sie uns das erläutern?

Sachverständiger Prof. Dr. Sell:

Wir bewegen uns ja sowohl beim § 16e neu wie auch beim § 16i SGB II von der arbeitsmarktpolitischen Mechanik her gesehen im Bereich der Lohnkostenzuschüsse. Die Lohnkostenzuschüsse können nach meiner Wahrnehmung eigentlich nur zwei ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die erste Funktion ist die klassische Funktion von Lohnkostenzuschüssen, d. h. ich drücke es mal so salopp aus, man hat eigentlich sehr arbeitsmarktnahe Arbeitslose, die man im Vermittlungsprozess mit einem Schubs in ein ungefördertes Beschäftigungsverhältnis rüber nimmt. In der klassischen Arbeitsvermittlung hieß das immer Huckepack-Vermittlung. Man hat den Arbeitgebern gesagt, probiere den mal aus, du kriegst einen Lohnkostenzuschuss. Deswegen waren auch ein bis zwei Jahre völlig korrekt. Dann ist der Produktivitätsnachteil ausgeglichen und er wird im Idealfall in eine ungeförderte Beschäftigung übernommen. Wenn Sie sich selber in die Position eines Arbeitgebers versetzen, werden Sie nachvollziehen können, dass man das eben per se erst einmal nur bei Leuten macht, wo man geringe oder überschaubare Produktivitätsdefizite vermutet oder sieht, nicht aber bei Leuten, bei Menschen, bei Betroffenen, die unter erheblichen Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit leiden. Diese normale Funktion schafft keine neue Beschäftigung, sondern unterstützt die Positionierung des Arbeitslosen in der Warteschlange, indem man ihm eine Förderung mitgibt. Und die zweite Funktion wäre, bisher nicht vorhandene Arbeit zu schaffen – also im klassischen Sinne öffentlich geförderter Beschäftigung, wie wir es früher bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hatten. Es geht darum, auf der Arbeitsnachfrageseite anzusetzen. Wenn man jetzt sagt, wir nehmen gerade die Personengruppe, die also am weitesten weg ist vom normalen Arbeitsmarkt, dann spricht, wenn überhaupt, eigentlich für den Einsatz eines klassischen Lohnkostenzuschusses nur, wenn dieser eingebettet wäre in ein Förderkettenmodell. Das heißt, bei diesen Menschen, bei denen, wie auch schon beschrieben wurde, erhebliche personale Einschränkungen vorliegen, beschädigte Biografien, jahrelange Nichterfahrung mit Beschäftigung, müsste man niedrigschwellig einsteigen, wie man es früher auch im BSHG hatte mit dem Hilfe-zur-Arbeit-Instrumentarium, über Arbeitsgelegenheiten dann sozialversicherungs-pflichtige Entgeltbeschäftigung anbieten, um am Ende in einer ungeförderte Beschäftigung zu landen. So erwecken die beiden Paragrafen den Eindruck, zumindest der § 16i, man will ein privilegiertes Instrumentarium, nämlich Lohnkostenbezuschussung in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, für den Personenkreis schaffen, der am weitesten weg ist vom ersten Arbeitsmarkt. Das wird nach allen Erfahrungen aus der Vergangenheit sehr überschaubare Ergebnisse produzieren.

Abgeordnete Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Die zweite Frage geht auch an Herrn Prof. Dr. Sell. Sie schreiben auch, dass individuelle Förderung, individuelle Voraussetzungen der langzeitarbeitslosen Menschen, aber auch unterschiedliche Anforderungen und Bedingungen an die Arbeitsplätze von zentraler Bedeutung sind. Daher die Frage: Sind die Höhe der Förderung bzw. vor allem auch die degressive Ausgestaltung Ihrer Meinung nach zu starr?

Sachverständiger Prof. Dr. Sell:

Ja, die sind aus meiner Sicht eindeutig zu starr. Ich würde einen Vorschlag, den wir in dem Antrag Ihrer Fraktion auch finden, befürworten. Wenn ich von der Mechanik eines Lohnkostenzuschusses ausgehe, und das muss ich beim vorliegenden Gesetz, dass ich im Übrigen in aller Deutlichkeit hier als einen Fortschritt empfinde, weil wir ein Regelinstrumentarium bekommen anstelle den ganzen Modellprogrammen, befristeten Programmen, die wir bisher haben. Dann sollte man es aber auch flexibel ausgestalten. Das heißt, wenn der Kern doch eine individuelle Förderung ist, und so habe ich beispielsweise Herrn Scheele verstanden, dann kommt es auf die passgenaue Zuweisung an. Ja, das heißt, ich muss mir aber jeden Einzelfall individuell anschauen. Dann wäre es wichtig, dass ich über eine möglichst große Flexibilität vor Ort in den Jobcentern verfüge. Wenn ich sage, ab zwei Jahren Arbeitslosigkeitsdauer kommt jemand im Grunde für eine Förderung in Frage und zweitens sage, die Förderhöhe kann 75 Prozent, muss aber nicht 75 Prozent betragen, dann ist das ein Aushandlungsprozess, so wie man das aus der Arbeitsvermittlung auch kennt, an den individuellen Merkmalen der zu vermittelnden Personen ausgerichtet. Dann brauche ich einfach mehr Flexibilität und Spielraum bei der Höhe der Förderung. Wenn ich, und das ist natürlich die Voraussetzung, wenn ich sage, auch für Menschen, für die auf Dauer oder absehbar eine Integration auf dem normalen ersten Arbeitsmarkt nicht wahrscheinlich ist, und ich aber für diese Menschen trotzdem Teilhabemöglichkeiten schaffen möchte, dann muss ich auch so ehrlich sein, über die Dauer der Förderung nachzudenken. Wenn ich für einen Teil der sehr schwer vermittelbaren Arbeitslosen eine Beschäftigungsmöglichkeit geben möchte, wäre auch eine längere Förderung angezeigt, wie wir sie im Modell der Inklusionsbetriebe haben. Das sind ja keine neuen Erfindungen. Also hier glaube ich, ist eine systematische Unwucht im vorliegenden Gesetzentwurf, was das Instrumentarium angeht.