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23.07.2011

Artikel: Tarifvertragssystem stärken

In einem Artikel habe ich meine Einschätzung zur Tarifautonomie und meinen Antrag dazu erläutert. Ich kann es einfach nicht verstehen, dass Frau Merkel zwar die weißen Flecken der Tarifautonomie kritisiert, aber nichts dagegen unternimmt. Ich habe meinen Antrag in den Bundestag eingebracht, um für dieses Thema Öffentlichkeit herzustellen.

Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Es ist gut und richtig, wenn die Sozialpartner selbst über Entlohnung und die Arbeitsbedingungen von Beschäftigung entscheiden. Dieses Grundprinzip hat eine lange Tradition und ist eine der zentralen Säulen in der Sozialordnung der Bundesrepublik. Aber das Tarifvertragssystem hat mittlerweile eine Schieflage und kann häufig seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Gerade bei den unteren Lohngruppen ist das bestehende gesetzliche Arrangement nicht mehr ausreichend, um die Beschäftigten vor unwürdigen Niedriglöhnen zu schützen. Ich meine – der Gesetzgeber muss die Tarifautonomie stützen und stärken. Woher kommt diese Fehlentwicklung und wie wollen wir Grünen die Balance wieder herstellen, um zu fairen und sozialen Wettbewerbsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu kommen?

Ein schleichender Erosionsprozess Der Einfluss der Tarifpartner schwindet. Aufgrund von Tarifflucht nimmt die Bedeutung von Flächen und Branchentarifverträgen ab. Die Tarifbindung nimmt ab, weil immer mehr Arbeitgeber die Arbeitgeberbände verlassen oder in sogenannte OT-Mitgliedschaften, also solche ohne Tarifbindung, wechseln. Die weißen Flecken im Tarifsystem werden dabei immer größer und zahlreicher. Die Bedeutung tarifpolitischer Regelungen nimmt kontinuierlich ab und die tarifvertragsfreien Branchen und Gebiete stetig zu. Mittlerweile ist die Zahl der von Tarifverträgen geschützten Beschäftigten von über 80 Prozent 1980 auf heute ca. 62 % zurückgegangen. Im gesamteuropäischen Vergleich befindet sich Deutschland damit beim Tarifbindungsgrad lediglich im Mittelfeld. Im Vergleich mit den alten EU-Staaten wird Deutschland nur noch durch Großbritannien und Luxemburg unterboten. Das wirkt sich auch auf die Löhne aus, denn sie sind inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2009 nicht gestiegen sondern durchschnittlich um 4,5 Prozent gesunken.

Ein System mit zu vielen und zu hohen Hürden

In Deutschland existiert das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Arbeitsbedingungen sind bei allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen für alle Betriebe einer Branche bindend. Dieser Mechanismus, der im Tarifvertragsgesetz geregelt ist, kommt aber immer seltener tatsächlich zur Anwendung . Die Zahl der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nimmt seit den 1990er Jahren kontinuierlich ab – heute sind es gerade mal 1,5% der Tarifverträge. Davon sind nur noch vier bundesweit gültige Entgelttarifverträge. Damit hat dieses Instrument für mehr Tarifbindung praktisch keine Relevanz mehr. Deutschland liegt auf Augenhöhe mit den osteuropäischen Länder. Eine soziale Errungenschaft ist zu einem zahnlosen Tiger geworden.

Der Grund für diese Entwicklung liegt im Mechanismus, nach dem Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden. Das BMAS bzw. die Bundesregierung können zwar einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, aber nur auf Antrag der Tarifparteien und im Einvernehmen mit einem Tarifausschuss, dem je drei Vertreter der Spitzenverbände der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden angehören. Wir wollen die Blockademöglichkeit des BDA im Tarifausschuss einschränken. Der Tarifausschuss soll um jene Tarifpartner erweitert werden, die den Tarifvertrag ausgehandelt haben. Auch das „Einvernehmen“ ist eine hohe Hürde. In Zukunft soll nur noch die Mehrheit im Tarifausschuss notwendig sein.

Vor allem eine weitere Regelung führt zu Blockaden: die tarifgebundenen Arbeitgeber müssen mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmenden beschäftigen. Diese Quote ist zu hoch und führt zu widersinnigen Effekten: je weniger Arbeitgeber überhaupt noch an Tarifverträge gebunden sind, um so geringer sind die Chancen auf verbindliche Arbeitsbedingungen. Wir aber meinen: Tarifflucht darf sich nicht mehr lohnen. Eine Absenkung der Quote auf 40 % ist ein unverzichtbarer erster Schritt, um die Erosionsprozesse aufzuhalten und wieder Anreize für Arbeitgebende zu schaffen, sich in Verbänden zu organisieren.

Mindestlöhne – oft blockiert und ausgebremst

Eine große Bedeutung haben insbesondere auch die branchenspezifische Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Aber auch dort sind die Kriterien nicht ausreichend, um die Beschäftigten wirksam vor Dumpinglöhnen zu schützen. Voraussetzung ist, dass die Tarifparteien einen gemeinsamen Antrag an das BMAS stellen. Dies ist aber bisher nur in bestimmten Branchen möglich, wie beispielsweise dem Bauhauptgewerbe und der Gebäudereinigung. Wir fordern, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen auszudehnen, damit die Tarifparteien die Möglichkeit haben, für alle in Deutschland arbeitenden in- und ausländischen Beschäftigten Mindeststandards zu vereinbaren. Das Gesetz muss so modifiziert werden, dass auch regionale Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden können. Ganz im Sinne der Tarifautonomie sollen die Tarifpartner selber entscheiden, ob Mindestlöhne notwendig sind oder nicht.

Der Tarifausschuss spielt auch im Arbeitnehmer-Entsendegesetz eine Rolle. Sind dort nicht mindestens vier Vertreter für eine Rechtsverordnung, kann das BMAS nicht alleine, sondern nur das Bundeskabinett als Ganzes entscheiden – ein Mechanismus der in der Praxis ebenfalls zu Blockaden führt. Wir wollen die Rolle des Tarifausschusses wieder auf seine ursprüngliche Funktion im Tarifvertragsgesetz zurückführen und im Arbeitnehmer-Entsendegesetz streichen.

Wichtige Schritte auf dem Weg zu neuer Stärke

Meine Forderungen zur Stärkung des Tarifvertragssystems habe ich in einem Antrag in den Bundestag eingebracht (Drucksache 17/4437). Mit den dort beschriebenen Maßnahmen wären sicher noch nicht alle Probleme gelöst. Neben der Stärkung des Tarifvertragssystems bleiben ein gesetzlicher Mindestlohn und Mindestlöhne nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz für Branchen ohne funktionierende Tarifautonomie nach wie vor absolut notwendig. Aber eine Stärkung des Tarifvertragssystem ist ein notwendiger und längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Es reicht nicht, wenn die Politik ausschließlich auf die Tarifpartner und die Tarifautonomie verweist. Wir brauchen soziale Leitplanken zur Stärkung der Tarifautonomie, damit die Löhne wieder entsprechend der Produktivitätsentwicklung steigen und der Trend zu Niedriglöhnen gestoppt wird. Damit bleiben auch die tariftreuen Betriebe wettbewerbsfähig. Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss faire und solidarische Rahmenbedingungen vorgeben und damit die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Menschen verbessern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert sich grüne Politik.


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