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30.06.2012

Persönliche Erklärung: ESM

In dieser dramatischen Situation in Europa ist keine Entscheidung einfach. Auch bei der Abstimmung zum Fiskalpakt habe ich es mir nicht leicht gemacht. Dennoch habe ich dem ESM zugestimmt. Meine Gedanken und Analysen dazu können in dieser Persönlichen Erklärung nachgelesen werden.

Den Fiskalpakt habe ich – im Gegensatz zur Mehrheit der grünen Bundestagsfraktion – abgelehnt und dazu habe ich auch eine Persönliche Erklärung nach § 31 GO-BT abgegeben. Dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) habe ich zugestimmt. Dazu habe ich aber keine Persönliche Erklärung im Bundestag abgegeben. Dennoch will ich meine Entscheidung im Folgenden ausführlich begründen. Denn auch die Entscheidung zur Einrichtung des ESM habe ich in den vergangenen Monaten als ungemein komplex, umstritten und weitrechend erlebt. Vor diesem Hintergrund habe ich mir meine Zustimmung auch nicht leicht gemacht.

Grundsätzlich vorab: Für mich spielen gemeinsame Werte und Solidaritätsverpflichtungen eine große Rolle für die Hilfen in Europa. Die moralische und symbolische Bedeutung der Hilfen ist ebenso wichtig wie die wirtschaftliche. Denn Europa ist auch ein friedenssicherndes Projekt, das es zu erhalten gilt. Dabei beeindruckt die Europäische Union durch ihre Kombination aus Werten und Wirtschaftskraft. Deshalb gilt für mich: Wenn die Wirtschaft in Schieflage gerät, dürfen die Werte nicht nachgeben, sonst gerät das gesamte Projekt ins Wanken.

Abgesehen davon hat die Rettung der gemeinsamen Währung und die Hilfe für in Not geratene Mitgliedstaaten auch handfeste volkswirtschaftliche Gründe. Deutschland hat in der Vergangenheit bis heute von der Europäischen Union und vom Euroraum ganz besonders profitiert. 62,3 Prozent des deutschen Gesamtexportes gingen 2009 in andere EU-Länder. Das sind Waren im Wert von knapp 600 Milliarden Euro. Lediglich knapp 10 Prozent der deutschen Exporte gingen nach Amerika, 14 Prozent nach Asien. Das wirtschaftliche Wohlergehen Deutschlands hängt also mehr denn je von einer stabilen gemeinsamen Währung ab. Diese ökonomische Wahrheit müssen wir zur Kenntnis nehmen. Deutschland profitiert in guten Zeiten in besonderem Maße von den anderen Mitgliedern der EU. Daher muss es sich auch in schlechten Zeiten in besonderem Maße engagieren. Und wenn andere europäische Länder in die Staatsinsolvenz gehen, weil sie keine Hilfen erhalten, dann trifft es Deutschland mehr als hart und das würden alle BürgerInnen in Deutschland spüren, ganz besonders die Beschäftigten in den exportorientierten Branchen. Und im übrigen hat Deutschland bis heute nur Garantien und einen Kredit vergeben und keinen Cent bezahlt. Im Gegenteil – Deutschland wird aufgrund der Euro-Krise durch niedrige Zinsen entlastet.

Die aktuelle Krise ist auch keine Staatsschuldenkrise – wie die Bundesregierung immer wieder behauptet, denn die europäischen Schuldenberge sind nicht das Ergebnis laxer Haushaltspolitik. In den meisten EU-Ländern kam es vor der großen Finanzmarktkrise 2008 zu keinem exzessiven Anstieg der Staatsausgaben. Im Gegenteil: Die öffentlichen Ausgaben stiegen schwächer als das Sozialprodukt. In den heutigen Krisenländern, beispielsweise in Irland und Spanien, sank sogar die Schuldenlast. Die Schuldenquoten – der Anteil der Staatsverschuldung am Sozialprodukt – waren rückläufig. Erst die große Finanzmarktkrise ließ die Staatsschulden europaweit explodieren. Die Bankenrettung machte aus privaten Schulden im Handumdrehen öffentliche Schulden. Konjunkturprogramme und Arbeitslosigkeit belasteten die öffentlichen Kassen. In der Folge kletterte die Schuldenquote aller Länder im Euroraum im Gesamtdurchschnitt von rund 66 Prozent auf über 85 Prozent. Diese Auswirkungen der Finanzkrise dürfen nicht verschwiegen werden.

In der Konsequenz brauchen wir einen permanenten Rettungsmechanismus. Wir Grünen halten es für unbedingt notwendig, ein Instrument zu schaffen, mit dem Euro-Staaten geholfen werden kann, die sich in einer Notlage befinden und am Markt keine bezahlbaren Kredite mehr bekommen. Ohne ein solches Instrument kann die Schieflage eines einzelnen Mitgliedstaates schnell zu einem Problem der gesamten Euro-Zone werden. Der ESM ist der Versuch, ein solches Instrument zu schaffen. Er ist aber keinesfalls, wie oft behauptet wird, ein Fass ohne Boden.

Aufgabe des Rettungsschirms ist es, am Markt Geld aufzunehmen und Stabilitätshilfen zu günstigeren Konditionen an Euro-Staaten mit gravierenden Finanzierungsproblemen weiterzugeben. Hilfen werden laut Vertrag nur gewährleistet, wenn diese „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedsstaaten unabdingbar“ sind. Die Garantien aus dem ESM sind auch an harte Voraussetzungen gebunden und in diesem Sinne ist der ESM eine notwendige und wichtige Weiterentwicklung des „spontanen Rettungsschirms“ EFSF. Die Hilfe ist mit Auflagen für das jeweilige Land verbunden. Diese Auflagen werden im sogenannten Memorandum of Understanding (MoU) festgehalten und die Umsetzung vierteljährlich durch die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit der EZB und dem IWF (Troika) überprüft. Vom Ergebnis dieser Überprüfungen hängt ab, ob das betroffene Land die nächsten Kredittranchen ausgezahlt bekommt. Garantien gibt es auch nur dann, wenn der notleidende Euro-Staat seine Schulden auch tatsächlich tragen kann. Hierzu erstellt die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF eine Schuldentragfähigkeitsanalyse. Ist ein Land nicht dazu in der Lage, muss es den Schuldenstand zuerst auf ein tragfähiges Niveau reduzieren. Dabei findet in Ausnahmefällen auch eine Privatgläubigerbeteiligung statt.

Voraussetzung für meine Zustimmung waren ausreichend garantierte Beteiligungsrechte des Bundestages. Diese notwendige Parlamentsbeteiligung konnte im Laufe des Verfahrens verhandelt werden. Jetzt ist also geklärt, dass bei einer Veränderung des Stammkapitals, bei der Veränderung des maximalen Darlehensvolumen und bei der Änderung der Finanzhilfeinstrumente die Zustimmung des Bundestages erforderlich ist und ebenso eine zweimalige Zustimmung, bevor ein Land unter den Rettungsschirm kommt. Damit ist eine Kontrolle der Mittelverwendung durch den Bundestag gewährleistet. Zudem ist nach unserer Klage ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ergangen, das umfassende Informations- und Mitwirkungsrechte auch im Rahmen des Fiskalpakts sicherstellt. In der Folge muss bei allen künftigen völkerrechtlichen Vereinbarungen und Verträgen der Bundestag frühestmöglich eingebunden werden. Aus meiner Sicht ist dies ein Sieg für die Demokratie und dies hat mir meine Zustimmung erleichtert.

Meine Zustimmung sollte aber nicht missverstanden werden. Sie bedeutet nicht, dass ich mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung einverstanden wäre. Der ESM entspricht auch nicht meiner politischen Wunschvorstellung einer gelungenen wirtschaftlichen und politischen Integration. Aber die Entwicklungen der vergangenen Jahre machen ein engagiertes und mutiges Eingreifen der Staaten in Europa nötig. Daher halte ich dieses komplexe Instrument in diesen schwierigen Zeiten für die richtige Antwort. Mittelfristig werden aber andere und weitreichendere Schritte nötig sein. Europa steht vor der Alternative, entweder den Zerfall der Währungsunion zu riskieren oder mutige Schritte hin zu einer fiskalischen und politischen Union zu gehen.

Die Liste der Instrumente die aus grüner Sicht notwendig sind, um ein sozial gerechtes und ökologisch nachhaltiges Europa zu schaffen, ist viel länger als der Merkelsche Einkaufszettel aus Rettungsnetz (ESM) plus Daumenschraube (Fiskalpakt). Um nur ein paar wenige Punkte zu nennen, die wir als grüne Bundestagsfraktion in einem Entschließungsantrag eingebracht haben:

Perspektivisch muss der ESM zu einem echten Europäischen Währungsfonds weiterentwickelt werden. Dazu bedarf es einer direkten Refinanzierung des ESM bei der Europäischen Zentralbank und der Möglichkeit Anleihen aufzukaufen.

Um den Zinsdruck auf die Krisenländer zu mindern, fordern wir die Einrichtung eines europäischen Altschuldentilgungsfonds nach dem Vorschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Außerdem kann die Einführung von europäischen Vermögensabgaben den Mitgliedstaaten helfen, Schulden sozial gerecht abbauen zu können.

Wir setzen uns für die Schaffung einer europäischen Bankenunion mit europäischer Aufsicht ein. Mit einem gemeinsamen Einlagensicherungssystem und einem Banken-Restrukturierungsfonds kann sie die Kapitalflucht aus dem Süden beenden und die unselige Verquickung zwischen Banken- und Staatsschuldenkrise durchbrechen.

Eine Harmonisierung der Steuerpolitik auf Europäischer Ebene ist dringend notwendig um den unfairen Steuerwettbewerb und Steuerdumping innerhalb der EU zu vermeiden und Steuerhinterziehung, -vermeidung und -flucht zu bekämpfen.

Die Bundesregierung muss ihre Forderung nach Kürzung des EU-Haushaltes 2014-2020 um 100 Mrd. Euro aufgeben. Ansonsten wird ein Wandel zugunsten von Beschäftigung, Wachstum, Innovation, Ausbildung und Forschung nicht zu erreichen sein.

Ein letzter Punkt ist mir persönlich als Sprecherin für Arbeitnehmerrechte sehr wichtig. Ich stehe zu den sozialen Zielen, die sich Europa gegeben hat. So garantiert die europäische Sozialcharta beispielsweise die Tarifautonomie. In der Realität wird diese jedoch durch die Sparanstrengungen in Griechenland untergraben. Im Rahmen der EU 2020-Strategie wurden wichtige Ziele zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und Armut vereinbart. Auch hier ist die Wirklichkeit eine andere. So hat Spanien eine skandalöse Jugendarbeitslosigkeit von über 50%. Natürlich müssen alle europäischen Staaten langfristig ihre Schuldenquoten senken. Aber die Konsolidierungspfade müssen den Möglichkeiten der Staaten entsprechen und in der Konsequenz gestreckt werden. Konsolidierungsanstrengungen müssen immer auch die Einnahmeseite in den Blick nehmen und Einsparungen bei den Ausgaben müssen sozialverträglich ausgestaltet werden. Die Grundwerte von Europa – soziale Gerechtigkeit und Sozialstandards für alle – haben für mich auch in der Krise Bestand. Sie dürfen nicht nur hehre Worte bleiben, sondern müssen auch eingelöst werden.

Auch wird in den Debatten zur Europapolitik noch zu sehr die Bedeutung der deutschen Binnennachfrage vergessen. Deutschland steht meiner Meinung nach auch in der Pflicht, beide Seiten der viel gescholtenen makroökonomischen Ungleichgewichte zu benennen. Während die Bundesregierung die Außenhandelsdefizite in anderen Ländern scharf kritisiert, hält sie die Überschüsse in Deutschland für tolerabel. Das eine kann es aber ohne das andere nicht geben, denn die Defizite der notleidenden Ländern sind die Überschüsse in Deutschland. Deshalb wird es Zeit, dass auch in Deutschland über Maßnahmen nachgedacht wird, die die Nachfrage im Inland ankurbeln. Ein gesetzlicher Mindestlohn und eine Ende der lohnpolitischen Zurückhaltung wären hier erste Schritte in die richtige Richtung.

 

Persönliche Erklärung