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29.06.2012

Persönliche Erklärung: „Nein“ zum Fiskalpakt

Noch nie haben wir so lange und intensiv über anstehende Entscheidungen im Bundestag und in der Fraktion diskutiert. Jetzt ist die Entscheidung gefallen. Ich habe mit „Ja“ gestimmt beim ESM, weil es ein wichtiges Instrument ist, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Beim Fiskalpakt habe ich aus voller Überzeugung mit „Nein“ gestimmt. Die Zinskosten für die Krisenländer explodieren, die Kapitalflucht nimmt zu, Arbeitslosigkeit und Armut steigen in Europa. Der Fiskalpakt löst diese Probleme nicht. Wenn der Schuldenabbau nicht gestreckt wird, führen die Einsparungen immer weiter in die Rezession. Das wäre kontraproduktiv. Sparen ist notwendig, aber sozial verträglich.

(Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (17/9046))

Wir sind in einer dramatischen Situation. Die Krise, die mit der Finanzkrise 2008 begann, verschärft sich. Die bisherigen Rettungsmaßnahmen der Bundesregierung waren nur Notmaßnahmen, die allerdings jeweils zu spät kamen und zudem unzureichend waren. Eine Politik, die nur auf der Ausgabenseite spart und den strukturellen Reformbedarf im Finanz-, Steuer- und Wirtschaftssystem ignoriert, verschärft die Krise, die ähnliche Züge trägt wie die Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren. Auch diesmal wäre ein New Deal die richtige Antwort, der allerdings aufgrund der nicht zu vergessenden Probleme wie Klimawandel, Ressourcenknappheit und Energieversorgung eine ökologische Komponente haben muss. Wir brauchen also einen „Green New Deal“.

Nur sparen allein hilft in der Krise nicht. Wir brauchen eine Richtungsänderung in der Politik. Deshalb hat Bündnis 90/Die Grünen Verhandlungen über die Ratifizierung des Fiskalpaktes geführt und viel erreicht. Mit der Verständigung auf ein Investitionsprogramm ist die Bundesregierung ein Stück weit von ihrer falschen Sparpolitik abgerückt. Mit der geplanten Einführung der Finanztransaktionssteuer wird es eine Wende in der Steuerpolitik geben. Damit werden die Finanzmärkte endlich an den Kosten der Krise beteiligt.

Den Verhandlungsergebnissen gebührt Anerkennung und Respekt. Dennoch konnten meine Bedenken über die sozialen Folgen des Fiskalpakts auch mit den Ergebnissen der Verhandlungen nicht ausgeräumt werden. Für mich bleibt der Fiskalpakt in der gegenwärtigen Situation nicht der richtige Weg zur nachhaltigen Konsolidierung der Haushalte der europäischen Länder. In diesem Sinne besteht letztendlich die Gefahr, dass der Fiskalpakt die Eurokrise verschärft. Vor allem aber richtet sich der Fiskalpakt meiner Meinung nach gegen die Interessen der ArbeitnehmerInnen, RentnerInnen und sozial Benachteiligten in Europa. Er verschärft die soziale Schieflage in den betroffenen Nationalstaaten und spitzt die Krise der Europäischen Integration weiter zu. Die Staaten der Europäischen Union müssen gerade in der Krise zeigen, dass sie das Europäische Sozialmodell ernst nehmen. Sie haben sich in den Verhandlungen der vergangenen Nacht in der Tat bewegt. Die vereinbarten Punkte wie ein erleichterter Zugang zu den Rettungsschirmen und eine Europäische Bankenaufsicht gehen in die richtige Richtung. Aber auch diese Schritte sind aus meiner Sicht noch nicht ausreichend.

Deshalb werde ich dem Fiskalpakt nicht zustimmen.

Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form gefährdet den sozialen Zusammenhalt in Europa. Neben der Bundesrepublik Deutschland bindet der Fiskalpakt auch 24 weitere Staaten der Europäischen Union. Gerade die schwächeren Volkswirtschaften in Europa werden aber durch eine zu rigide Sparpolitik der öffentlichen Haushalte empfindlich getroffen. Schon heute sehen wir die sozial unausgewogenen Auswirkungen dieser Sparpolitik – in Griechenland, Portugal oder Spanien. Ich verfolge mit Entsetzen die immer neuen Meldungen über die immens steigende Jugendarbeitslosigkeit, Auswanderung, Perspektivlosigkeit, Armutstendenzen und den sozialen Unfrieden in den genannten Ländern. Mich treibt die Sorge um, dass dieser Prozess sich noch verstärken wird.

Der Fiskalpakt ändert nichts an den hohen Zinsen, die insbesondere die Defizitländer nach wie vor bedienen müssen. Hohe Zinsen führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, Schulden zurückzahlen zu können, sinkt. Dadurch steigen die Zinsen noch weiter, ein Teufelskreis entsteht. Es ist zu befürchten, dass der Fiskalpakt einen noch stärkeren Druck auf die nationalen Regierungen und damit auch auf die Sozialsysteme ausüben wird. Die Defizitländer können nur mit radikalen und überstürzten Sparprogrammen reagieren. Der Sparpolitik wurden zwar durch die Verhandlungen Investitionen zur Seite gestellt, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Der einseitige Spardruck mit Blick auf die Ausgaben besteht aber weiterhin ungebrochen und wurde auch nicht mit sozial verträglichen Regeln unterlegt. Letztlich muss ich nach wie vor davon ausgehen, dass der Fiskalpakt erhebliche soziale Lasten mit sich bringt, die für mich nicht akzeptabel sind. Massive Einsparungen bei Sozialausgaben, Sozialversicherungen, im Gesundheits- und Bildungsbereich werden den Zusammenhalt in den Ländern Europas weiter untergraben und gerade die Menschen treffen, die die Krise nicht verschuldet haben.

Ich stehe zu den sozialen Zielen, die sich Europa gegeben hat. So garantiert die europäische Sozialcharta beispielsweise die Tarifautonomie. In der Realität wird diese jedoch durch die Sparanstrengungen in Griechenland untergraben. Im Rahmen der EU 2020-Strategie wurden wichtige Ziele zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und Armut vereinbart. Auch hier ist die Wirklichkeit eine andere. Durch den Fiskalpakt werden diese Ziele unerreichbar. Natürlich müssen alle europäischen Staaten langfristig ihre Schuldenquoten senken. Aber die Konsolidierungspfade müssen den Möglichkeiten der Staaten entsprechen und in der Konsequenz gestreckt werden. Konsolidierungsanstrengungen müssen immer auch die Einnahmeseite in den Blick nehmen und Einsparungen bei den Ausgaben müssen sozialverträglich ausgestaltet werden. Die Grundwerte von Europa – soziale Gerechtigkeit und Sozialstandards für alle – haben für mich auch in der Krise Bestand. Sie dürfen nicht nur hehre Worte bleiben, sondern müssen auch eingelöst werden. Der Fiskalpakt in seiner jetzigen Ausgestaltung wird dem nicht gerecht.

Der Fiskalpakt leistet auch keinen Beitrag zur Überwindung der Euro-Krise. Denn die aktuelle Krise ist keine Staatsschuldenkrise, denn die europäischen Schuldenberge sind nicht das Ergebnis laxer Haushaltspolitik. In den meisten EU-Ländern kam es vor der großen Finanzmarktkrise 2008 zu keinem exzessiven Anstieg der Staatsausgaben. Im Gegenteil: Die öffentlichen Ausgaben stiegen schwächer als das Sozialprodukt. In den heutigen Krisenländern, beispielsweise in Irland und Spanien, sank sogar die Schuldenlast. Die Schuldenquoten – der Anteil der Staatsverschuldung am Sozialprodukt – waren rückläufig.

Erst die große Finanzmarktkrise ließ die Staatsschulden europaweit explodieren. Die Bankenrettung machte aus privaten Schulden im Handumdrehen öffentliche Schulden. Konjunkturprogramme und Arbeitslosigkeit belasteten die öffentlichen Kassen. In der Folge kletterte die Schuldenquote aller Länder im Euroraum im Gesamtdurchschnitt von rund 66 Prozent auf über 85 Prozent. Diese Auswirkungen der Finanzkrise dürfen nicht verschwiegen werden.

Selbstverständlich müssen die Staatshaushalte konsolidiert werden. Heute droht aber die Gefahr, dass der Fiskalpakt den europäischen Staaten die Handlungsmöglichkeiten nimmt. Wenn der Staat zum falschen Zeitpunkt kürzt, dann verlieren Firmen Aufträge und drosseln die Produktion, die Binnennachfrage bricht ein und die Krise verschärft sich. Wenn staatliche Transfers gekürzt werden, können Erwerbslose und Bedürftige weniger Geld ausgeben. Damit verlängert dieser Nachfrageentzug im Abschwung die wirtschaftliche Talfahrt. In der Folge sinken Wachstum und Steuereinnahmen – Arbeitslosigkeit und Schulden aber steigen. Die katastrophalen Folgen dieser einseitigen Sparmaßnahmen werden in Südeuropa schon heute, beispielsweise durch eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, sichtbar.

Schuldenabbau darf eben öffentliche Investitionen nicht unmöglich machen. Die Staaten Europas müssen in ökologische Nachhaltigkeit, Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investieren. Schließlich ist der langfristige Wert dieser Zukunftsinvestitionen größer als ihre Finanzierungskosten. Defizite müssen auch über höhere Beteiligung von hohen Einkommen und Vermögen an den gesellschaftlichen Belastungen abgebaut werden. Ebenso wird die vordringliche Frage der makroökonomischen Ungleichgewichte vom Fiskalpakt nicht gelöst. Hier müsste sich auch Deutschland endlich zu seiner Verantwortung bekennen und eine Politik der Nachfragesteigerung im Inland betreiben.

Vor allem aber berührt der Fiskalpakt auch eine Kernfrage der Demokratie in der Europäischen Union. So ist der Fiskalpakt nicht innerhalb, sondern außerhalb der Europäischen Institutionen entwickelt worden. Er hätte seinen Platz innerhalb der Europäischen Vertragswerke haben können. Stattdessen wird der Fiskalpakt durch einen zwischenstaatlichen Vertrag in Kraft gesetzt. Dem Europäischen Parlament wird keine entscheidende Rolle zugedacht. Auch das lehne ich entschieden ab.

Explizit unterstütze ich die weitergehenden Forderungen, die wir in einem Entschließungsantrag zur Abstimmung bringen, denn ESM und Fiskalpakt werden die Krise kurzfristig nicht entschärfen.

Wir fordern einen europäischen Altschuldentilgungsfonds nach dem Vorschlag des Sachverständigenrates, um den Zinsdruck auf die Krisenländer zu mindern.

Wir brauchen europaweite Vermögensabgaben, um Schulden sozial gerecht abbauen zu können.

Notwendig sind insbesondere eine europäische Bankenunion mit europäischer Aufsicht, ein gemeinsames Einlagensicherungssystem und ein Banken-Restrukturierungsfonds, um die Kapitalflucht aus dem Süden zu beenden und die unselige Verquickung zwischen Banken- und Staatsschuldenkrise zu durchbrechen. Hier gab es aktuell durch die Verhandlungen der EU Staats- und Regierungschefs Bewegung. Allerdings ist wieder nur ein Teil der notwendigen Maßnahmen vereinbart worden.

Der ESM muss perspektivisch zu einem echten Europäischen Währungsfonds weiterentwickelt werden. Dazu bedarf es einer direkten Refinanzierung des ESM bei der Europäischen Zentralbank und der Möglichkeit, Anleihen aufzukaufen.

Notwendig ist auf europäischer Ebene auch ein Europäischer Steuerpakt, um den unfairen Steuerwettbewerb und das Steuerdumping innerhalb der EU zu vermeiden und Steuerhinterziehung, -vermeidung und -flucht zu bekämpfen.

Die Bundesregierung muss ihre Forderung nach Kürzung des EU-Haushaltes 2014-2020 um mindestens 100 Mrd. Euro aufgeben. Ansonsten wird ein Wandel zugunsten von Beschäftigung, Wachstum, Innovation, Ausbildung und Forschung nicht zu erreichen sein.

Schlussendlich brauchen wir einen europäischen Konvent, um mit breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner die notwendigen Vertragsänderungen hin zu einer Wirtschafts- und Solidarunion zu diskutieren und auf den Weg zu bringen.

Alles zusammen zeigt: Meine Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung ist groß. Insbesondere der Fiskalpakt ist für mich keine Antwort. Im Gegenteil, er verschärft die Krise und wird einem sozialen Europa, wie ich es mir vorstelle, in das ich Hoffnungen setze und für das ich politisch kämpfe, nicht gerecht.

 

Persönliche Erklärung