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30.06.2011

Rede: Tarifvertragssystem stärken

Endlich konnte ich meinen Antrag „Tarifvertragssystem stärken“ in den Bundestag einbringen. Dieser Antrag ist mir ein Anliegen. Nur noch 62% der Beschäftigten sind von tariflichen Vereinbarungen geschützt. Die Tarifflucht nimmt zu – die Tarifbindung nimmt ab. Die Tarifautonomie funktioniert immer weniger und in manchen Branchen überhaupt nicht. Die Tarifautonomie ist für uns Grüne ein hohes Gut, deshalb muss die Politik meiner Meinung nach das Tarifvertragssystem stützen und stärken.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller–Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller–Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Bundeskanzlerin Merkel hat kürzlich bei der ILO–Konferenz in Genf die deutsche Sozialpartnerschaft gelobt, und auch Sie, die Regierungsfraktionen, verweisen bei vielen Debatten immer auf die Tarifautonomie.

Auch wir Grünen stehen zur Tarifautonomie, und gerade deswegen schauen wir genau hin: Realität ist, dass die Tarifautonomie immer weniger funktioniert. Arbeitgeber wechseln in OT–Mitgliedschaften oder begehen gleich ganz Tarifflucht. In der Folge nimmt die Tarifbindung kontinuierlich ab. Heute sind nur noch circa 62 Prozent der Beschäftigten durch tarifliche Vereinbarungen geschützt. Das schwächt die Tarifpartner und auch die Tarifautonomie; das ist nicht akzeptabel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf die Lohnentwicklung. Der neue Global Wage Report der ILO zeigt: Im weltweiten Vergleich von 26 entwickelten Ländern liegt Deutschland bei der Reallohnentwicklung in den letzten zehn Jahren mit minus 4,5 Prozent an letzter Stelle.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Oh!)

Die Löhne orientieren sich nicht mehr angemessen an der Produktivitätsentwicklung. Der Trend hin zu den Niedriglöhnen ist ungebrochen. Durch die sinkende Tarifbindung fehlt zudem in manchen Branchen zuungunsten der kleinen und mittleren tariftreuen Betriebe ein einheitlicher Wettbewerbsrahmen. Diese Entwicklung sehen wir mit großer Sorge; wir meinen, dass sie endlich gestoppt werden muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Gitta Connemann (CDU/CSU): Aber nicht durch so etwas!)

Andere europäische Länder stützen die Tarifautonomie politisch mit einem System aus Mindestlöhnen und vor allem mit für allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhnen. In Deutschland hingegen gibt es kaum Mindestlöhne, und vor allem sind gerade einmal 1,5 Prozent der Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt.

(Gitta Connemann (CDU/CSU): Vereinigungsfreiheit!)

Damit bewegt sich Deutschland auf Augenhöhe mit den osteuropäischen Ländern,

(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Mit Luxemburg und England!)

und das kann ich nur als peinlich bezeichnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Beim DGB–Kongress im letzten Jahr hat Frau Merkel die weißen Flächen bei der Tarifautonomie kritisiert, aber seither ist wenig passiert. Wir wollen aber die Sozialpartner stärken. Im Tarifvertragsgesetz wollen wir das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern und die zu hohen Hürden abbauen. Der Tarifausschuss soll beispielsweise temporär um die Tarifparteien derjenigen Branchen erweitert werden,

(Gitta Connemann (CDU/CSU): Da macht man den Bock zum Gärtner!)

in denen ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Einseitige Blockaden der Spitzenverbände sind damit nicht mehr möglich; die antragstellenden Tarifparteien hingegen werden gestärkt.

Die Tarifflucht der Arbeitgeber führt auch dazu, dass immer weniger Branchen Anträge stellen können. Deshalb wollen wir auch die geforderte Tarifbindung von 50 auf 40 Prozent senken.

Schlussendlich bleiben wir bei unserer alten Forderung, dass das Arbeitnehmer–Entsendegesetz für alle Branchen geöffnet wird. Die Tarifpartner sollen ganz im Sinne der Tarifautonomie selber entscheiden, ob in ihren Branchen Mindestlöhne notwendig sind oder eben nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mittlerweile höre ich auch aus der Regierungskoalition eine gewisse Bereitschaft zum Umdenken. Arbeitsministerin von der Leyen oder auch Peter Weiß sprechen sich für Branchenmindestlöhne aus. Selbst aus der FDP waren Stimmen zu hören, die sich positiv zu Mindestlöhnen geäußert haben. Das freut mich natürlich.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen: Wenn es Ihnen mit der Tarifautonomie ernst ist, dann verfallen Sie bitte nicht in den üblichen Reflex, unsere Forderungen kategorisch abzulehnen.

(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Das ist kein üblicher Reflex, sondern wohlbegründet!)

Führen Sie mit uns, Herr Lehrieder, konstruktive Diskussionen in den Gremien. Unser Ziel ist, dass die tariftreuen Arbeitgeber und die Gewerkschaften weiter die Löhne und die Arbeitsbedingungen aushandeln.

Notwendig aber sind politische Rahmenbedingungen, um die Tarifpartner zu stärken, damit die Tarifautonomie wieder funktioniert und möglichst alle Beschäftigten davon profitieren.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)