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28.01.2010

Rede: Zeitarbeitsbranche muss reguliert werden

Mit dieser Rede brachte Beate Müller-Gemmeke ihren Antrag zur Zeitarbeit in den Bundestag ein. Die Leiharbeitsbranche soll grundlegend neu reguliert werden. Im Mittelpunkt muss der Gleichbehandlungsgrundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ stehen. Die Substitution von Stammbelegschaften muss verhindert werden.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin­nen und Kollegen! Anfang 2009 bekam ich ein Prospekt von einer Zeitarbeitsfirma in die Hand gedrückt. Die Überschrift lautete: „Alle müssen raus!“ Hoppla, dachte ich, wieso macht eine Zeitarbeitsfirma Schluss­verkauf? Dabei ging es aber nicht um Kühlschränke oder Waschmaschinen, sondern um Menschen, die zu Dum­pinglöhnen vermittelt werden sollten. Im Text stand:

Kalkulieren Sie mit spitzem Bleistift, dank unserer Wirtschaftskrisen-Rabatt-Aktion … Exklusiv für Sie – Sichern Sie sich 15 Prozent Rabatt auf alle Hilfs- und Fachkräfte. So etwas nenne ich menschenverachtend.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich ist dies ein Einzelfall, und nicht alle Unter­nehmen missbrauchen die Zeitarbeit und betreiben mo­dernen Menschenhandel. Dies möchte ich hier explizit sagen, um die Kolleginnen und Kollegen der Regie­rungsfraktionen gleich am Anfang zu besänftigen.

Aber ebenso schockierend ist der Fall Schlecker. Dort findet derzeit eine beispiellose Umstrukturierung statt. Mit dem Instrument Zeitarbeit sollen die Personal­kosten deutlich gesenkt werden. Das Skandalöse daran ist, dass Schlecker bestehende Gesetzeslücken ausnutzt. Bisherige Schlecker-Filialen werden geschlossen. Den Beschäftigten wird gekündigt, und anschließend werden sie über eine eigens gegründete Zeitarbeitsfirma wieder eingestellt, und zwar zu deutlich geringeren Löhnen und Urlaubsansprüchen sowie ohne Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. So werden Tariflöhne unterlaufen. Der Kündigungsschutz wird umgangen und den Be­schäftigten der Bestandsschutz genommen. Hier sind Korrekturen überfällig.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schlimm ist, dass Schleckers Vorgehen legal ist. Schlecker ist kein Einzelfall. Laut der Studie des Insti­tuts Arbeit und Qualifikation ist dies gängige Praxis in 7 Prozent der Unternehmen mit betrieblicher Interessen­vertretung. Deswegen muss die Politik sofort aktiv wer­den und diesem Missbrauch einen Riegel vorschieben. Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung gesetz­lich verhindert wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN­KEN)

Das reicht aber nicht. Die Zeitarbeit wurde in den letzten Jahren vor allem auch zum Abbau von Stamm­personal missbraucht. Eine von Arbeitsminister Laumann in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass ein Viertel der Unternehmen die Zeitarbeit zur Substitution von Stammbelegschaften nutzt. Nicht nur das: Viele Un­ternehmen benutzen die Zeitarbeit auch als strategisches Instrument, um Stammbelegschaften unter Druck zu set­zen. Ihnen werden Zeitarbeitskräfte zur Seite gestellt, die zu deutlich geringeren Konditionen arbeiten müssen. Die Festangestellten haben damit natürlich permanent das Gefühl, dass sie ihre relativ sicheren Jobs gegen die Zeitarbeitskräfte verteidigen müssen. Diese hingegen wollen natürlich ein Jobangebot haben.

Ein Beispiel aus einem Zweischichtbetrieb: Eine Schicht bestand nur aus Zeitarbeitskräften, die andere Schicht aus Stammpersonal. Zuerst haben die Zeitar­beitskräfte 10 Prozent über Soll gearbeitet. Dann zog die Stammbelegschaft nach. Das ging so lange, bis der Be­trieb bei 170 Prozent der früheren Leistung angekom­men war. Ich hoffe nicht, dass die FDP jetzt denkt, das ist ja super für das Unternehmen. Denn solch ein System bewirkt, dass die Menschen mit der Zeit völlig ausge­brannt sind. Die Zahl der Arbeitsunfälle und psychi­schen Erkrankungen nimmt massiv zu. Das kann für Un­ternehmen nicht gut sein. Echtes Engagement entsteht nicht in einem Klima der Angst.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Von den Linken werden wir immer wieder lautstark, Herr Ernst, daran erinnert, dass wir Grüne der damaligen Reform zugestimmt haben. Sie haben recht. Allerdings war unsere Intention eine völlig andere.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr seid sozusa­gen von der SPD überrannt worden!)

Wir wollten faire Bedingungen und mit dem Instrument der Zeitarbeit Erwerbslose in Beschäftigung bringen. Das hat aber nicht funktioniert. Keiner konnte wissen, dass der Tarifvorbehalt die sogenannten christlichen Ge­werkschaften mit ihren Gefälligkeitstarifverträgen auf den Plan ruft. Es war auch nicht absehbar, dass so viele Unternehmen im Rahmen der Zeitarbeit das eigene Per­sonal in die Wüste schicken.

Wir sehen die Fehlentwicklung. Für mich ist es ent­scheidend, dass wir den Mut und die Ehrlichkeit besit­zen, dies einzugestehen. Deswegen haben wir schon im Jahr 2009 einen Antrag gestellt, um den Missbrauch der Zeitarbeit zu verhindern, und zwar lange, bevor die Dis­kussion um Schlecker losging.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben erkannt, dass in der Zeitarbeit ein enormer Regelungsbedarf besteht. Von der CDU/CSU und der FDP habe ich bisher wenig zu diesem Thema gehört. Im Gegenteil, das Ministerium von Frau von der Leyen hält immer noch daran fest, dass sich die Zeitarbeit erfolg­reich entwickelt hat und als arbeitsmarktpolitisches In­strument unverzichtbar ist. Dies wurde heute ja noch­mals gesagt.

Die Bundesregierung hat aber mit dem 11. Bericht über die Erfahrungen und Anwendungen des Arbeitneh­merüberlassungsgesetzes das Gegenteil belegt. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem Einsatz in der Zeitarbeit vom Entleihbetrieb übernommen zu werden, ist gering; sie liegt gerade bei 7 Prozent. Von daher kann überhaupt nicht von einem funktionierenden Klebeeffekt gespro­chen werden. Auch die Laumann-Studie, die Ihnen be­kannt sein müsste, bestätigt: Wer vor dem Einsatz in der Zeitarbeit arbeitslos war, ist es hinterher mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder. Deswegen sage ich der Mi­nisterin, auch wenn sie heute nicht anwesend ist: Der Klebeeffekt ist ein Mythos. Bitte nehmen Sie dies end­lich zur Kenntnis.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Zeitarbeit ist also kein arbeitsmarktpolitischer Se­gen. Im Gegenteil, sie führt dazu, dass der Aufbau regu­lärer Beschäftigungsverhältnisse ins Stocken gerät. Dies hat der letzte Aufschwung gezeigt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt die Sta­tistik aber nicht her!)

Sie ist aber der Preis für die Flexibilität, die für die Un­ternehmen geschaffen wird. Ich denke, alle politischen Parteien, sogar die Gewerkschaften, sind bereit, diesen Preis für eine ökonomische Flexibilität zu zahlen. Jeden­falls habe ich weder von der Fraktion Die Linke noch von den Gewerkschaften die Forderung gehört, dass die Zeitarbeit gänzlich abgeschafft werden soll.

Was wir in unserem Antrag fordern, ist eine sinnvolle Regulierung, damit die Zeitarbeit nicht zum Beispiel für niedrige Löhne missbraucht wird; die Zeitarbeitsbeschäf­tigten müssen Lohneinbußen zwischen 35 und 45 Prozent hinnehmen. Dazu müssen sie nur einmal in die Laumann-Studie hineinschauen. Deshalb fordern wir, dass der Tarifvorbehalt gestrichen wird. Der Gleichbehandlungs­grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ muss ohne Wenn und Aber gelten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Als Ausgleich für die hohen Flexibilitätsanforderun­gen fordern wir die Einführung einer Prämie in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir auch! Das steht in unserem Antrag!)

– Seit neuestem möchte Die Linke dies auch. Diese Prämie gibt es bereits in Frankreich. Dort hat sie sich nicht als Hinderungsgrund für den Einsatz von Zeitarbeit erwiesen. Die Prämie passt auch gut zum Slo­gan der FDP, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Der Unterschied zu den Konzepten der FDP ist nur, dass die Prämie die Steuerzahler kein Geld kostet. Im Gegen­teil, sie führt sogar zu höheren Einnahmen in der Sozial­versicherung.

Wichtig ist uns auch die Wiedereinführung des Syn­chronisationsverbots. Es soll dazu führen, dass die Zeitarbeitskräfte länger bei den Verleihern beschäftigt werden und vor allem in verleihfreien Zeiten eine Quali­fizierung erhalten können. In diesem Punkt geht unser Antrag weit über die Forderungen der Fraktion Die Linke hinaus.

An dieser Stelle fordern wir auch einen angemessenen branchenspezifischen Mindestlohn, der in verleihfreien Zeiten gilt. Nur so kann dafür gesorgt werden, dass Zeit­arbeitskräfte auch in verleihfreien Zeiten von ihrem Lohn leben können.

Ich komme zum Schluss. Wir wollen, dass die Zeitar­beit wieder zu einem verträglichen Instrument für die Wirtschaft und die Beschäftigten wird, wir wollen, dass die Menschen angemessen bezahlt und würdig behandelt werden, und wir wollen, dass mit dem nächsten Konjunk­turaufschwung nicht mehr die Zeitarbeit, sondern reguläre Beschäftigungsverhältnisse die höchsten Wachstumszah­len aufweisen. Die Substitution von Stammbelegschaf­ten muss endlich ein Ende haben. Zeitarbeit muss wieder zu dem werden, was sie ursprünglich war: ein Instru­ment zum Abfedern von Auftragsspitzen, nicht mehr und nicht weniger.

Wir fordern die Regierungsfraktionen auf, die Zeitar­beit so schnell wie möglich zu regulieren. Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass aus dem sogenannten Klebe­effekt ein Schleudersitz in die Arbeitslosigkeit wurde.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das stimmt einfach nicht, Frau Kollegin!)

Nach der Krise wird die Zeitarbeit einen neuen Auf­schwung erleben – anstelle von regulären sozialversi­cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorlauf zu regu­lären Beschäftigungsverhältnissen!)

Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wollen Sie das wirklich? Wenn nein, dann müssen Sie handeln. Vielen Dank.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Sie regierten, wollten Sie es genau so haben!)