Sozial kalt, politisch motiviert – das Ergebnis einer Kampagne gegen Erwerbslose
Die neue Grundsicherung, die im Kabinett beschlossen wurde, orientiert sich nicht an den Menschen. Sie ist das Ergebnis einer jahrelangen, toxischen Kampagne der Union gegen Erwerbslose. Statt Unterstützung, Respekt und Vertrauen rücken künftig Kontrolle, Sanktionen und Misstrauen in den Mittelpunkt. Das schwächt den Sozialstaat, der eigentlich Sicherheit geben und Chancen eröffnen soll.
Eine Reform ohne Fakten – aber mit politischem Kalkül
Diese Reform zielt auf ein Problem, das kaum existiert. Der politische Blick richtet sich auf eine angeblich große Gruppe von Menschen, die Arbeit verweigern. In Wirklichkeit ist diese Gruppe verschwindend klein. Es sind nicht einmal ein Prozent der Leistungsberechtigten. Trotzdem wird ein ganzes System verschärft. Millionen Menschen geraten unter Generalverdacht. Nicht, weil es notwendig wäre, sondern weil es politisch gewollt ist.
Über Monate wurde das Bürgergeld schlechtgeredet: Arbeit lohne sich nicht mehr, zu viele wollten nicht arbeiten. Diese Erzählung ist empirisch falsch, hat aber gewirkt. Die neue Grundsicherung beruht deshalb nicht auf Fakten. Sie ist vielmehr ein Zugeständnis an eine stigmatisierende Debatte mit verzerrten Bildern und falschen Zahlen.
Wer ein ganzes System umbaut, um ein Prozent zu disziplinieren, statt 99 Prozent zu unterstützen, hat etwas Grundlegendes nicht verstanden. Gute Sozialpolitik erkennt Realität an. Sie setzt auf Vertrauen – nicht auf Misstrauen. Auf Zusammenarbeit – nicht auf Konfrontation.
Wenn Sanktionen wichtiger werden als Chancen
Künftig sollen Sanktionen schneller, härter und pauschaler greifen. Schon formale Pflichtverletzungen können zu empfindlichen Kürzungen führen. Das ist sozialpolitisch fatal.
Denn wir wissen: Härtere Sanktionen führen nicht zu nachhaltiger Arbeitsmarktintegration. Sie machen Beschäftigung nicht stabiler, nicht besser, nicht sicherer. Sie verschärfen Notlagen, zerstören Vertrauen und führen nicht selten dazu, dass Menschen sich zurückziehen – aus Scham, aus Angst, aus Überforderung.
Sanktionen treffen selten fehlenden Willen. Sie treffen Menschen mit komplexen Lebenslagen: mit gesundheitlichen Problemen, psychischen Belastungen, fehlende Qualifizierung, familiären Verpflichtungen. Wer in solchen Situationen kürzt, bestraft Überforderung und verschärft sie zugleich.
Wenn es plötzlich gar nichts mehr gibt
Besonders gravierend ist der geplante vollständige Leistungsentzug. Wenn Leistungen zu 100 Prozent gestrichen werden, stehen Menschen ohne jede Existenzsicherung da: ohne Geld für Lebensmittel, ohne Schutz vor Wohnungsverlust, ohne jede Absicherung. Ein solcher Zustand ist mit dem Sozialstaatsprinzip und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar.
Der Versuch, diesen Bruch über formale Konstruktionen wie Nichterreichbarkeit zu umgehen, macht ihn nicht harmloser, sondern noch problematischer. Ein Sozialstaat, der Menschen vollständig fallen lässt, gibt seinen verfassungsrechtlichen Auftrag auf.
Wer nichts mehr zahlt, nimmt Wohnungslosigkeit, Hunger und soziale Ausgrenzung billigend in Kauf. Besonders betroffen sind Familien und Kinder aus einkommensschwachen Haushalten – Kinder, die ohnehin schlechtere Bildungs- und Gesundheitschancen haben.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Auch für Erwerbslose. Auch für ihre Kinder.
Schnell irgendein Job statt echte Perspektiven
Mit dem Vermittlungsvorrang zählt wieder vor allem eines: Geschwindigkeit. Hauptsache schnell in Arbeit – egal welche. Dabei haben viele Menschen in der Grundsicherung keinen oder einen veralteten Berufsabschluss. Sie brauchen Zeit, Qualifizierung und individuelle Unterstützung. Sie brauchen jemanden, der hinschaut – nicht Druck, möglichst schnell irgendeinen Job anzunehmen.
Schnelle Vermittlung produziert Drehtüreffekte: prekäre Jobs, kurze Beschäftigungen, erneuter Leistungsbezug. Das kostet Kraft, Geld und Vertrauen. Gute Sozialpolitik misst sich nicht an Vermittlungsquoten, sondern an Stabilität, Teilhabe und Zukunftsperspektiven.
Respekt heißt: hinsehen, unterstützen, befähigen – und Menschen Zeit für Entwicklung geben.
Unsicherheit von Anfang an
Die einjährige Karenzzeit war eine sinnvolle Schutzregelung. Sie hat Menschen in akuten Krisen Sicherheit gegeben und Jobcenter entlastet. Dieser Schutz soll nun fallen: Vermögen wird sofort angerechnet, Mieten gedeckelt. Was technisch klingt, hat harte Folgen. Menschen geraten früh unter Druck, müssen umziehen oder ihre Miete aus dem Regelsatz bestreiten. Existenzangst ersetzt Stabilität.
Wer vom ersten Tag an um Wohnung und Erspartes fürchten muss, kann sich nicht auf Arbeitssuche oder Qualifizierung konzentrieren. Das ist nicht menschlich – und nicht effizient.
Wenn Familien keine Wahl mehr haben
Die Absenkung der Altersgrenze für Eltern mit kleinen Kindern greift in ihr Leben ein. Künftig sollen Mütter und Väter schon ab dem ersten Lebensjahr ihres Kindes dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – unabhängig davon, ob sie ihr Kind selbst betreuen wollen.
Damit wird Familien und insbesondere Alleinerziehenden die Wahlfreiheit genommen, in den ersten drei Lebensjahren ihres Kindes zu entscheiden, wie sie Betreuung und Erwerbsarbeit vereinbaren. Diese Entscheidung ist in anderen Lebenslagen gesellschaftlich anerkannt und politisch gewollt – nur nicht für Familien in der Grundsicherung.
Gleichzeitig ignoriert diese Regelung die Realität: fehlende Betreuungsplätze, instabile Angebote, hohe Belastungen, vor allem für Frauen. Hier wird Druck aufgebaut, wo Unterstützung nötig wäre. Elternrechte werden ausgehöhlt – und die Bedürfnisse der Kinder geraten aus dem Blick.
Mehr Bürokratie – weniger Zeit für Menschen
Absurderweise führt diese Reform nicht zu mehr Effizienz, sondern zu mehr Bürokratie. Neue Nachweispflichten, verschärfte Sanktionen und komplizierte Regelungen binden Zeit und Personal in den Jobcentern.
Zeit, die dann fehlt für Beratung, Qualifizierung und individuelle Begleitung. Je stärker Kontrolle und Dokumentation dominieren, desto weniger wirksam wird Arbeitsmarktpolitik.
Fazit: Ein Rückschritt mit Ansage
Diese neue Grundsicherung ist kein Fortschritt. Sie ist ein politisch motivierter Rückschritt.
Sie reagiert auf Stimmungen statt auf Fakten. Statt Vertrauen und Förderung setzt sie auf Druck, Sanktionen und Kontrolle. Sie gefährdet das Existenzminimum und schafft neue Unsicherheiten. Das System wird schwerfälliger, kälter und verliert an Menschlichkeit.
Dabei geht es bei der Grundsicherung um das unterste soziale Netz. Es schützt nicht „die anderen“, sondern uns alle. Jede und jeder kann durch Krankheit, Unfall, Kündigung oder einen Schicksalsschlag darauf angewiesen sein. Gerade deshalb darf dieses System nicht auf Kampagnen, Populismus und falschen Bildern aufbauen. Eine Grundsicherung muss Sicherheit geben, Perspektiven eröffnen und die Würde der Menschen schützen.
Ausführliche Bewertung der neuen Grundsicherung entlang der zentralen Kritikpunkte



