Inhalt

19.11.2019

Podium bei der Evangelischen Akademie Loccum

Unter dem Titel „Hartz 4.0? Die Grundsicherung für Arbeitssuchende zwischen Fortentwicklung und Generalrevision?“ lud die Evangelische Akademie Loccum zu einem zweitägigen Austausch verschiedener Expert_innen ein. Ich durfte an einer Podiumsdiskussion teilnehmen, in der wir notwendige Schritte hin zu einer neuen Form der Grundsicherung diskutierten.

Mein Beitrag zur Tagung:

Hartz IV braucht eine Generalrevision

Bei Hartz IV sind wir Grünen ganz klar. Wir brauchen mehr als ein paar kleine Reformen, sondern ganz eindeutig eine Generalrevision. Es reicht nicht aus, nur hier und da an ein paar Schräubchen zu drehen, denn das Problem sind die Grundsätze des Systems.

Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass sich Arbeitslosigkeit nicht durch Aktivierung und Sanktionierung arbeitsloser Menschen bekämpfen lässt, während strukturelle Gründe größtenteils außer Acht gelassen werden. Arbeitslose Menschen profitieren ebenso wenig von einer Arbeitsförderung, die vor allem auf kurzfristige Maßnahmen und möglichst schnelle Vermittlung in – zumeist prekäre und schlecht entlohnte – Tätigkeiten setzt. Ein Grundsicherungssystem ist auch nicht tragbar, wenn Existenzängste immer präsent sind, weil der Regelsatz nur ein Leben in Armut ermöglicht. Denn es transportiert Unsicherheit und Ängste weit in die Gesellschaft hinein.

Sozio-kulturelle Teilhabe garantieren – ohne Zwang

Eine unserer zentralen Forderungen ist daher – neben der Einführung einer Kindergrundsicherung – die Erhöhung des Regelsatzes. Kein Mensch kann menschenwürdig von einer Leistung leben, die noch unterhalb des Einkommens der ärmsten Haushalte liegt und in der viele alltägliche Bedarfe einfach nicht berücksichtigt werden. Das künstliche Kleinrechnen des Regelsatzes muss aufhören und deshalb fordern wir, dass das Berechnungsverfahren verändert wird. Richtig wäre eine Referenzgruppe auf der Basis der unteren 20 Prozent der Einkommen und ohne verdeckt Arme. Es darf keine nachträglichen Streichungen geben, die die soziale und kulturelle Teilhabe gefährden. Und beim Kinderregelsatz muss als Referenz die „Mitte“ gelten, denn alle Kinder haben die gleichen Chancen verdient und dürfen nicht von Beginn an als „kleine Arbeitslose“ stigmatisiert werden.

Die Grundsicherung muss nicht nur höher ausfallen, sondern darf auch keinen Kürzungen unterliegen. Wir fordern daher die komplette Abschaffung der Sanktionen im Bereich des SGB II. Denn auch eine Kürzung des Existenzminimums um 30 Prozent bedeutet für die Betroffenen und ihre Familien eine unzumutbare Situation. Vor allem geht es bei den Sanktionen um die Würde der Menschen und dazu gibt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus meiner Sicht eine wichtige Aussage: „Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu.“ (Zeile 123). Die Bundesregierung sollte jetzt schnell handeln und die Frage der Sanktionen, auch für junge Menschen, abschließend klären. Das ist wichtig für die arbeitslosen Menschen, aber auch um Sicherheit für die Jobcenter herzustellen. Wir werden uns im parlamentarischen Verfahren für die Abschaffung der Sanktionen einsetzen, denn das Urteil besagt: die Politik kann Sanktionen fordern, sie muss es aber nicht.

Ich bin auch davon überzeugt, dass Menschen, die arbeiten, aber wenig verdienen und auf aufstockende Leistungen angewiesen sind, nicht in das System der Grundsicherung gehören. Wenn Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, dann hat das Gründe – geringer Lohn, zu wenig Stunden, obwohl viele gerne mehr arbeiten wollen und häufig geht es dabei ganz einfach um die Betreuung der Kinder, insbesondere bei Alleinerziehenden. Und deshalb plädiere ich hier für eine Art negative Einkommenssteuer, mit der die Menschen ihre Leistungen direkt und unbürokratisch ausgezahlt bekommen.

In der Debatte um die harten Fakten bei Regelsatz und Sanktionen wird jedoch häufig übersehen, dass wir auch in der Arbeitsförderung dringend einen Perspektivwechsel brauchen. Eine der Grundannahmen im SGB II ist der Aktivierungsbedarf der Arbeitslosen. Dabei sind die Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit so individuell wie die Menschen selbst. Druck und Zwang sind hier keine geeigneten Mittel, um sie zurück in die Arbeitswelt zu begleiten. Diesen sich widersprechenden Anforderungen sind die  Fachkräfte in den Jobcentern bei ihrer Beratung täglich ausgesetzt. Sie müssen beispielsweise der gesetzlichen Aktivierungslogik gerecht werden, indem sie die Arbeitslosen in der Umsetzung ihrer Eigenbemühungen kontrollieren und im schlimmsten Fall sanktionieren. Dies kann dem Anspruch an eine vertrauensvolle Beratung jedoch völlig entgegenstehen. Gleichzeitig kollidieren Eingliederungsvereinbarungen, die im Zweifel als Verwaltungsakt gegen den Willen der Erwerbslosen erlassen werden können, mit dem Prinzip kooperativer Zielvereinbarungen. Die aktuelle Situation ist also weder für die Arbeitssuchenden noch für die Fachkräfte in den Jobcentern zufriedenstellend. Und damit sind nicht die Arbeit und das Engagement der Beschäftigten in Jobcentern gemeint, sondern die gesetzlichen Grundlagen und die Grundsätze der Arbeitsförderung, die die Arbeit der Jobcenter-Beschäftigten erschweren.

Perspektivwechsel in der Arbeitsförderung

Ziel muss sein, dass die Menschen gerne und zuversichtlich in ein Jobcenter gehen. Sie sollen dort eine wertschätzende Beratung auf Augenhöhe erhalten und gemeinsam mit den Fachkräften über ihren Weg entscheiden können – und zwar ohne standardisierte Eingliederungsvereinbarung mit seitenlanger Rechtsfolgenbelehrung. Und wichtig ist auch, dass die Jobcenter Unterstützung bereitstellen, die individuell passt und auch nachhaltig wirkt. Und damit all dies möglich wird, sind konkrete gesetzliche Änderungen notwendig. Drei Punkte sind dabei zentral.

  1. Arbeitsförderung ist nur erfolgreich auf der Grundlage von Freiwilligkeit. Eine Heranführung oder Integration in den Arbeitsmarkt kann nicht funktionieren, wenn Menschen ohne Interesse an Maßnahmen teilnehmen, weil sie aus ihrer Sicht keinen Sinn ergeben, aktuell nicht in ihr Leben passen oder wenn sie einzelne Integrationsschritte nicht nachvollziehen können. Wir wollen deshalb anstelle der Eingliederungsvereinbarung in der jetzigen Form einen kontinuierlichen Eingliederungsprozess ermöglichen. Nur wenn gemeinsam realistische Ziele und Teilschritte erarbeitet werden, entsteht Motivation und nur so kann der Weg zurück in die Arbeitswelt gelingen.
  2. Der Vermittlungsvorrang muss unbedingt abgeschafft werden. Denn mit dem Vorrang für schnelle Vermittlung in Arbeit, insbesondere in prekäre Arbeit oder Leiharbeit, wird zu kurzfristig gedacht und eindeutig der falsche Fokus gesetzt. Vermittlung in Arbeit funktioniert nicht für alle auf direktem Weg und es entmutigt, wenn die Jobaufnahme deswegen immer wieder scheitert. Viele Menschen, die lange nicht gearbeitet haben, brauchen in erster Linie Unterstützung. Bei ihnen geht es nicht um eine sofortige Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Vielmehr müssen sie wieder ein Selbstwertgefühl entwickeln, sich ausprobieren können und Anerkennung erfahren. Dafür sind Zwischenschritte und geschützte Räume notwendig. Für andere, die dauerhaft keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, muss soziale Teilhabe oberste Priorität haben. Der Soziale Arbeitsmarkt ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, er müsste aber stärker auf soziale Teilhabe statt auf Eingliederung ausgerichtet werden. Gleichzeitig benötigt ein Teil der Arbeitslosen in erster Linie Qualifizierung, beispielsweise einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung, und dafür braucht es Anreize. Wir fordern ein Weiterbildungsgeld, das über dem Arbeitslosengeld II liegt. Und als Voraussetzung dafür wollen wir ein Recht auf Qualifizierung einführen. Zentral ist auch, dass abschlussorientierte Weiterbildungen nicht wie bisher zwangsläufig auf ein Drittel der eigentlichen Dauer oder zumeist auf 24 Monate verkürzt werden, auch wenn bereits Ausnahmen im Bereich Pflege existieren. Diese festgelegte Höchstdauer bedeuten insbesondere für Geringqualifizierte, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Zugewanderte kaum überwindbare Hürden.
  3. Wenn wir von Individualisierung der Arbeitsförderung sprechen, sind damit auch die Jobcenter gemeint. Sie müssen mehr Eigenverantwortung und Freiheit erhalten und gleichzeitig nicht länger durch starre und verengte Zielvorgaben eingeschränkt werden. Vor allem aber sollen sie die Möglichkeit erhalten, Angebote stärker als bisher individuell zu gestalten. Die Maßnahmen müssen regional entwickelt und ausgeschrieben werden mit dem Ziel, bundesweite Aktivierungsmaßnahmen von der Stange wenn möglich ganz zu ersetzen. Deshalb muss auch die Freie Förderung (§ 16f SGB II) finanziell besser ausgestattet und flexibler ausgestaltet werden. Denn die Jobcenter sind die Experten vor Ort. Es ist auch nicht zielführend, Jobcenter Leistungsvergleichen ausschließlich auf Basis quantitativer Kennzahlen, insbesondere der Integrationsquote, auszusetzen. Diese sagen nichts über die Beratungsqualität und die Entwicklungspfade der Menschen abseits der Vermittlung aus und führen bei den Beschäftigten zu unnötigem psychischem Druck. 
  4. Die Beratungsleistung ist eng mit den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Jobcentern verbunden und die müssen unbedingt verbessert werden. So sollte der Personalschlüssel im Bereich der unter 25-jährigen auf weitere Gruppen mit erhöhtem Förderbedarf wie beispielsweise Menschen mit Behinderungen, ältere Personen, Geflüchtete oder auch Alleinerziehende ausgeweitet werden. Die einzelnen Jobcenter sollten deshalb über die Verteilung entscheiden können und auch die Möglichkeit erhalten, mehr Personal über die aktuelle Vorgabe von 1:150 hinaus zu erhalten. Nur so ist es möglich, Zeitdruck aus Beratungsgesprächen zu nehmen, Vertrauen aufzubauen und wirkliche Unterstützung zu ermöglichen. Qualitativ hochwertige Beratung kann zudem nur von Vermittlungsfachkräften geleistet werden, die mit ihren eigenen Arbeitsbedingungen zufrieden sind. Befristungen, aber auch die unterschiedliche Entlohnung innerhalb der Jobcenter aufgrund der Zugehörigkeit des Personals zur Bundesagentur für Arbeit bzw. zur Kommune werden weder dem Verständnis einer gemeinsamen Einrichtung noch einer positiven Arbeitsatmosphäre gerecht.

Mein Fazit ist also: Langzeitarbeitslose Menschen sind arbeitslos, weil die Arbeitswelt nicht inklusiv ist. Wer nicht sofort hundertprozentig passt oder Unterstützung benötigt, hat zu oft keine Chance. Damit ist Langzeitarbeitslosigkeit kein individuelles, sondern ein strukturelles, gesamtgesellschaftliches Problem. Reine Aktivierung hilft hier nicht weiter und deshalb ist ein Perspektivwechsel dringend notwendig. In der Arbeitsförderung muss das Ziel sozialer Teilhabe verankert werden und eine individuelle Unterstützung entsprechend den Stärken und Schwächen der Menschen möglich sein. Vermittlung in Arbeit funktioniert häufig nur mit Zwischenschritten und für manche gibt es nur dauerhaft den Sozialen Arbeitsmarkt als Perspektive. Und diesen Anforderungen muss das SGB II endlich gerecht werden.