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19.01.2022

Entscheidungen über Leben und Tod

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss der Bundestag nun unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen im Falle einer pandemiebedingten Triage treffen. Um zu diskutieren, wie eine solche Regelung aussehen sollte, haben wir Grünen zu einem digitalen Fachgespräch eingeladen und mit verschiedenen Expert:innen diskutiert. Denn die Entscheidung über Leben oder Tod im Fall übervoller Intensivstationen ist eine, mit der wir die behandelnden Ärzt:innen nicht alleine lassen dürfen.

Seit Jahren haben wir Grünen darauf gedrängt, dass es gerade mit Blick auf Menschen mit Behinderungen gesetzliche Regelungen gibt, die in Notfällen Ärzt:innen Leitlinien an die Hand geben, um zu priorisieren. Doch die alte Bundesregierung wurde nie tätig. Stattdessen hat jetzt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gesprochen. Es gab im Dezember einer Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderung statt (Aktenzeichen: 1 BvR 1541/20). Denn nach Ansicht des Gerichts sind Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen und Beeinträchtigungen in der Corona-Pandemie besonders gefährdet. Wenn es auf den Intensivstationen nicht genügend Betten und Beatmungsgeräte gibt, besteht die Gefahr, dass sie nicht behandelt werden. Dass der Gesetzgeber hier nicht gehandelt habe, ist nach der Entscheidung des BVerfG verfassungswidrig.

Doch wie könnte eine solche Triage-Regelung aussehen? Dazu sagt das BVerfG nichts. Der Gesetzgeber müsse allerdings berücksichtigen, dass sich bei sogenannten Triage-Entscheidungen die Mediziner:innen in einer Extremsituation befinden und schnell entscheiden müssen, wer behandelt wird und wer nicht. Zugleich müsse sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.

Rechtsanwalt, Prof. Dr. Oliver Tolmein, der die Beschwerdeführer:innen vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat, erklärte am Mittwoch, schon ohne Pandemie wurden Menschen mit Behinderungen in der Gesundheitsversorgung diskriminiert. So hätten etwa Menschen mit kognitiven Einschränkungen große Schwierigkeiten, sich in Krankenhäusern verständlich zu machen. In der Regel stünden Gehörlosen keine Gebärdendolmetscher zur Verfügung. Wenn es jetzt darum gehe, eine gesetzliche Triage-Regelung zu finden, sei es unerlässlich, dass Menschen mit Behinderungen an der Entscheidungsfindung beteiligt werden.

Bei diesem Fachgespräch verwiesen viele Expert:innen außerdem genau wie das Bundesverfassungsgericht auf den Umstand, dass vor allem der große Verlust von Pflegekräften insbesondere auf den Intensivstationen die Situation verschärft. Wir brauchen daher dringen konkrete Regelungen, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege und die Bezahlung essentiell zu verbessern. Betont wurde auch, dass ein neues Gesetz dringend auch spezifische Vorgaben zur Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzt:innen enthalten müsse. Denn gehe es um die Behandlung von Menschen mit Behinderungen oder um die Palliativmedizin, hätten Mediziner:innen öfters unzureichende Kenntnisse.

Bisherige Richtlinien zur Triage, wie die von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (kurz: DIVI) 2020 entwickelte, stellen bewusst auf die klinischen Erfolgsaussichten ab, also auf die Chance der Patient:innen, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Auch ein künftiges Gesetz muss Wege finden, hier genau zu definieren, in welcher Situation Ärzt:innen die Möglichkeit haben, die Beatmung eines Patienten abzustellen, wenn sie zu dem Schluss kommen, hier gibt es keine Erfolgschancen mehr, um die Beatmung anschließend einer neuen Patientin zur Verfügung zu stellen. Ausschlaggebend müssen die Erfolgsaussichten sein. Behinderungen oder Vorerkrankungen dürfen auf keinen Fall ein Grund dafür sein, Patient:innen gar nicht erst an ein Beatmungsgerät anzuschließen.

Diese Stufe der Triage ist heute teilweise von der Realität eingeholt worden. Denn Entscheidungen fallen schon viel früher. Wie Expert:innen berichten, gab es immer wieder Fälle, dass Erkrankte aus Einrichtungen für behinderte Menschen und in der Altenpflege gar nicht mehr ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Diese Art der stillen Triage muss unbedingt mit dem geplanten Gesetzesentwurf unterbunden werden. Da sind wir uns alle einig.